Ein Priester in Berlin. Oder: Warum ich Feministin bin.
Kapitel 10 — Franziskus besucht mich, in meiner Wohnung, meiner Stadt, meinem Leben. Im Voraus frage ich mich vor allem zwei Dinge: Was werden meine Freunde vom Priester halten? Und: Was soll Franziskus von mir kennenlernen?

Franziskus kommt in zehn Minuten, und der Auflauf ist noch nicht fertig. Kim und ich springen zwischen Dressing und Tisch hin und her. Ich zünde die Kerzen an, was wir sonst nie tun, weil man immer erst das alte Wachs aus dem Kerzenständer herauspulen muss. Kim schiebt den Käse („Ich habe sogar echten Feta gekauft!“) in den Salat und fragt: „Wieso machst Du Dir denn Sorgen?“ Gerade habe ich ihr erklärt, dass ich nervös bin. „Er ist doch der Priester“, sagt Kim. „Ich bin aufgeregt! Ich weiß gar nicht, was ich sagen darf und was nicht. Wird er beten vor dem Essen?“ Ich bejahe, Kim lacht: „Oh Gott.“
Kim und ich hatten noch nie einen Priester in der Wohnung. Jetzt aber soll Franziskus sie, meine Mitbewohnerin, meine Wohnung, meine Freunde, mein Leben kennenlernen.



Ich habe vorher lange überlegt, wie ich ihm zeige, wer ich bin. Was macht mich aus? Was ist mir wichtig? Klar, wir haben das Thema schon so oft gestreift, es soll auch um Feminismus gehen, darum, was das eigentlich heißt. Aber wie mache ich ihm klar, warum mir gewisse Dinge wichtig sind? So etwas wie eine Kirche, in die ich ihn führen kann, habe ich nicht. Auch keinen Wildwald.
Es klingelt.
Was meine Freunde später erzählen:
„So habe ich mir einen Priester auf jeden Fall nicht vorgestellt. Er war überhaupt nicht so konservativ und spießig. Er war sehr offen. Er hat voll oft „cool“ gesagt und sogar „geil“. Als ich ihm von unserer Partyreihe erzählt habe, fand er das total spannend. Der Kragen unter seinem Hemd könnte auch ein Hipster-Trend sein. Nach seinem Glauben habe ich ihn nicht gefragt. Ich fand es unpassend, in einer Bar zu sitzen und über Glauben zu reden. Ehrlich gesagt hatte ich aber auch keine wirklichen Fragen.“
An meinem Küchentisch krachen meine beiden Leben aufeinander. Rechts sitzt Franziskus, den ich seit über einem halben Jahr begleite, plötzlich neben meiner Mitbewohnerin. Links sitzen zwei Freunde von mir, die zum Essen gekommen sind: Moritz und Livia, die zusammenleben, aber nicht verheiratet sind, wie ich gerade das erste Mal bewusst denke. Dieser Katholizismus im Kopf.
Es gibt schönianschen Nudelauflauf, Kims Salat mit Mega-Dressing und geile Birnen.

Alle sind höflich. Smalltalk: Woher kennt Ihr Euch, seit wann bist du in Berlin. Keiner spricht Franziskus’ Kollar oder sein Priestersein an. Bis wir guten Appetit wünschen. Da schließt Franziskus kurz die Augen, schaut nach unten und bekreuzigt sich. Sein Gebet vor dem Essen, so unauffällig — Kim bemerkt es gar nicht. Moritz fällt es auf, er fragt: „Willst Du, dass wir vorher beten, dann können wir das ruhig machen?“ Moritz ist nicht gläubig. Franziskus sagt danke, aber verneint.
Damit ist das Glaubensthema angerissen. Die anderen fragen Dinge, die auch ich schon gefragt habe, und die man eben so fragt, wenn man heutzutage einen Priester am Tisch sitzen hat: Wie kam es denn dazu? Und, bist Du Dir sicher?
„Das kurze Gebet für sich wirkte, als ob er uns nicht belästigen wollte, das fand ich sehr nett von ihm. Ich wollte nicht, dass er sich allein fühlt, deswegen habe ich gesagt, wir können das auch zusammen machen. Ich hätte nicht mitgebetet, aber wäre kurz ruhig gewesen. Er hat von seiner Berufung erzählt. Ich glaube ihm, dass er das so empfunden hat, dass Gott ihn ruft, ich kann mir das nur für mich nicht vorstellen. Glaube ist ja auch etwas Beneidenswertes, das habe ich ihm auch gesagt. Es war voll interessant, das alles zu hören, solche Geschichten höre ich sonst nicht. Aber für mich ist das alles trotzdem zu weit weg, dafür bin ich zu rational.“

Wir ziehen weiter in unsere Lieblingsbar, wo noch mehr Freunde auf Franziskus warten. Wir trinken Bier und den Schnaps ‚Mexikaner’ — der beste, Tomatensaft und Korn, viel Pfeffer und vor allem Tabasco. Franziskus trinkt ihn zum ersten Mal. Von weitem sieht man gar nicht, dass da ein Priester sitzt, wir sehen alle aus wie Freunde an einem Bar-Abend.
Über Glaube, Kirche oder Gott spricht Franziskus mit niemandem, erzählt er mir später. Warum? „Weil ich mir denken konnte, dass sie das nicht teilen. Und ich wollte ja etwas über sie erfahren, Deine Freunde kennenlernen.“
„Ich habe mit ihm nicht über seinen Priesterberuf gesprochen, weil ich ihn nicht nur darauf reduzieren wollte. Wenn wir schon abends in einer Bar sind, muss ich ihn ja nicht nur damit konfrontieren. Man will ja niemanden sofort in ein Mega-Grundsatzgespräch verwickeln. In einem anderen Kontext hätte ich einen Priester sicherlich schon gefragt, wie er dazu gekommen ist und was er daran findet. Mir liegt das eben total fern. Aber in meinem Berliner Umfeld einfach mal so einen Priester zu treffen ist ja schon eine recht fiktive Situation.”

Franziskus erzählt mir später auch, dass er sich nicht unwohl gefühlt hat. Wann er das letzte Mal mit so vielen Nicht-Christen abends in einer Bar saß, weiß er nicht mehr. Berufsrisiko. „Aber ich war ja auch mal Student“, sagt er.
Wir gehen weiter in eine Eckkneipe, eine von denen, in denen eine Jukebox spielt und Menschen noch verdutzt aus ihrer Rauchwolke hervorschauen, wenn plötzlich Menschen unter 30 im Raum stehen.
„Mich hat irritiert, dass er den Kragen getragen hat. Der wirkte spießig, einschüchternd, und ich hatte nie das Gefühl, da eine Privatperson vor mir sitzen zu haben. Franziskus war aber ganz ungezwungen, das hat mich überrascht. Angespannt war ich trotzdem, vielleicht weil ich wusste, dass wir viele unterschiedliche Ansichten haben (Feminismus zum Beispiel). Über Kirche und Glauben wollte ich nicht sprechen, ich habe Familie in der evangelischen Kirche, und mir sind diese Gespräche irgendwie unangenehm.“
Wir trinken weiter, jetzt Fuji mit Bier. Wir sprechen über die israelische Soziologin Eva Illouz und ihr Buch „Warum Liebe weh tut“, über unseren Urlaub, über Berlin. Wir versuchen, Darts zu spielen, aber bekommen den Automaten nicht an, wir müssen zusehen, wie die Gruppe neben uns es schafft.




Einmal tönt aus der Jukebox Marius Müller-Westernhagen, wir singen mit, Franziskus steigt ein und brüllt: „SEXY“, alle lachen.
Es ist drei Uhr, als Franziskus ein wenig die Augen zufallen, wir gehen, er schläft bei seinem Bruder. Ich gehe auch nach Hause, um für morgen fit zu sein. Meine Freunde ziehen noch weiter.
„Ich war Franziskus gegenüber voreingenommen. Ich komme ja selbst aus katholischen und dörflichen Verhältnissen. Meine Mutter wurde noch als Rabenmutter bezeichnet, weil sie uns in die Kita bringen wollte. Ich denke, ich habe mit meiner katholischen Vergangenheit hart gebrochen und mich noch nicht wieder damit versöhnt. Einmal haben wir über Sprache diskutiert, und Franziskus saß dabei. Es ging um die Vereinfachung der Sprache, indem man bestimmte Artikel weglässt. Franziskus meinte, das würde doch zur Verarmung der Sprache führen. Das hat mir irgendwie den Stecker gezogen. Es hat vorgefertigt gewirkt, wie Junge-Union-ready-to-go-Argumente. Ich hatte einfach keinen Bock, mir das anzuhören. Das hat mich an „Die Genderideologie — das Buch“ erinnert. Hätte ich eine zweite Chance, würde ich Franziskus ausreden lassen. Aber auch mal nachhaken und kritisch hinterfragen, was er denkt und fühlt. Ist ja doch ‘ne interessante Auseinandersetzung.“




Am nächsten Morgen — naja, Mittag — brunchen Franziskus und ich noch einmal in der Lieblingsbar, die tagsüber zum Lieblingscafé wird.
Wir sprechen lange über den Abend und die letzten Monate und alles Mögliche. Wir gucken nicht auf die Uhr, es ist wirklich wie Urlaub.
Dann zeige ich ihm Berlin, mein Berlin. Fitnessstudio statt Fernsehturm, Späti statt Schloss, Bäcker statt Brandenburger Tor. Wir laufen über den Spielplatz, über den ich schon seit Jahren fast täglich gehe und spazieren durch den Park, in dem ich mir immer vornehme, joggen zu gehen.
„Ehrlich gesagt hatte ich überhaupt keine Vorstellungen, wie ein Priester privat ist: weder im Positiven noch im Negativen — es hat mich einfach nie interessiert. Hätte ich darüber nachgedacht, hätte ich mir ihn wohl wie Franziskus vorgestellt: konservativ, beherrscht, interessiert und gut im Zuhören. Gleichzeitig aus einer völlig anderen Welt, sodass wenig Gesprächsthemen bleiben außer dem gegenseitigen Ausfragen. Das war natürlich interessant. Genauso, als würde man mit einem Straßenreiniger, Präsidenten oder Indianer-Häuptling sprechen. Aber dabei spart man dann eben einige Themen aus, von denen man denkt, sie passen nicht in die Weltsicht des Anderen. Ich rede vor einem Priester natürlich nicht von der letzten Party oder meinen letzten drei Affären. Warum sollte ich? Mein Ziel ist es an so einem Abend nicht, ihm die Freiheiten des Großstadtlebens vorzuführen und auch nicht, mich mit ihm über Positionen der Kirche zu streiten. Ich möchte an so einem Abend höchstens den Menschen kennenlernen und aus seinem Leben hören. Wenn sich das ergibt, ist das gut — wenn nicht, dann auch kein Weltuntergang.“

Ich zeige Franziskus mein Berlin, aber ich kann ihm eben keine Kirche zeigen. Nachdem ich lange überlegt habe, was Franziskus von mir sehen soll, um mich besser zu verstehen, habe ich entschieden, dass ich ihm nichts zeigen kann, sondern erzählen muss.
Wir spazieren mehr als vier Stunden kreuz und quer durch die Stadt. Ich hatte keine Ahnung, wo ich anfangen soll.




Franziskus und ich haben schon so viele Themen angerissen, zu denen ich gern noch etwas gesagt hätte. Wir sprachen immer über Symptome — das Genderideologie-Heft oder den Koffer, den ich selbst tragen will — nie darüber, was eigentlich mein Problem ist.
Sollte ich damit anfangen, was „Feminismus“ für mich heißt, und warum er mir so wichtig ist? Oder mit Beispielen einsteigen — die fremden Typen, die mir „Lächle mal“ hinterher brüllen oder der Schlüssel zwischen meinen Fingern, wenn ich nachts an einer Gruppe Männer vorbeigehe? Oder erstmal mit Rollenbildern anfangen? Oder Erziehung? Vielleicht frage ich erstmal, wie natürlich ein pinkfarbenes Plastikpony sein kann. Oder ich beginne genau auf der anderen Seite, bei 21 Prozent Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen?

Ich wusste es wirklich nicht. Und irgendwann habe ich überlegt, worüber Franziskus und ich zuerst gesprochen haben, als ich ihn kennenlernen und verstehen wollte. Es waren keine konkreten Themen, wie der Missbrauchsskandal oder das Frauenpriestertum. Es war seine Berufung. Er hat mir zuerst von seinem Weg zu Gott erzählt, von seinen Erlebnissen, die seine Beziehung zu Jesus Christus geprägt haben, die allem anderen zugrunde liegt. Damit ich besser verstehe, wie er auf alles andere blickt. Also habe ich entschieden, das auch zu tun: Ich erzähle ihm nicht, was ich jetzt denke. Ich erzähle ihm von meinem Weg dorthin.
Weil es eben vier Stunden gedauert hat, kann das hier nur so eine Art Zusammenfassung sein:
„Das erste Mal hörte ich von Feminismus im Politikstudium. Und es nervte mich. Ich weiß noch genau, dass alle mir ständig von irgendwelchen Problemen erzählen wollten und ich dachte: Ich habe doch gar keine Probleme. Fußball wollte ich sowieso nicht schauen oder kommentieren. Und wenn ich Jungs meine Tasche aufgedrückt habe, obwohl ich sie auch selbst hätte tragen können, hab’ ich mich gefreut — die waren ja die Doofen. Als eine Kommilitonin Mario Barth als Mega-Sexisten beleidigte, dachte ich nur: „Alter, chill’ mal, der macht doch nur schlechte Witze.“

Ich lernte dann während des Studiums auch, was das Genderkonzept ist: die Unterscheidung zwischen der biologischen Gegebenheit (= Vagina und Brüste) und unserem gesellschaftlichen Geschlecht (= Nagellack und Minirock). Dass das genau wie Feminismus nötige Konzepte sind, leuchtete mir natürlich ein. Aber nicht hier, nicht in meiner Welt, hier war ja alles okay. Meine Freunde, Arbeitskolleginnen, Bekannten, Kommilitonen und ich wussten ja, was das Problem ist, und der Rest kommt dann von selbst, es geht schließlich immer vorwärts.
Dass das nicht stimmt, merkte ich Anfang 2013 durch die #Aufschrei-Debatte. Aber weder die Debatte selbst, noch der Hashtag politisierten mich — sondern die Reaktionen aus meinem Umfeld. Die haben mich geschockt. Für mich war klar, dass wir — diese liberale Elite Anfang/Mitte 20 — ja wissen, dass der Spruch von Rainer Brüderle gegenüber der Stern-Journalistin Laura Himmelreich absolut sexistisch und scheiße war und dass alles, was unter dem Hashtag #Aufschrei gesammelt wurde, ständig in Deutschland passiert.

Aber: Viele wussten es nicht. Das war der erste Schock. Und der zweite: Wenn man ihnen sagte, dass das sexistisch und scheiße war, spielten sie die Situation herunter und wollten die Aussage Brüderles auf andere Dinge schieben. Sie sagten: Himmelreich ist selbst Schuld. Sie hätte ja etwas sagen können. Oder sie hätte ihn, da abends in einer Bar, eben nicht ansprechen müssen; sie müsse ja dann mit so etwas rechnen, wenn sie es wagt, an der Bar noch eine politische Frage zu stellen — wie es jeder Mann auch getan hätte. Dritter Schock: Die vielen Frauen und ihre Erlebnisse, die unter dem Hashtag gesammelt wurden, wurden als Einzelfälle abgetan — dabei erzählten sie ständig das gleiche.
Und der vierte Schock war: Sie sprachen es mir ab. Sie sprachen mir meine Erlebnisse und meine Wahrnehmungen ab — und dass die für irgendetwas stehen könnten. Ich führte so viele Diskussionen, in denen ich mich selbst als Exempel anführte. Ich sagte, dass ich, die sie ja kennen, diese selbstbewusste Frau, die immer den Mund aufmacht, selbst diese Erfahrung kenne. Zu wissen, dass hier etwas nicht in Ordnung ist, aber nicht zu wissen, was man sagen soll. Dass auch ich nichts sage, wenn plötzlich ein Arbeitskollege einen Spruch macht à la „Hallo, schöne Frau!“. Oder bei jeder unangenehmen Berührung. Klingt wie eine Kleinigkeit, ist es aber nicht. Ist ein beschissenes Gefühl. Und es gibt tausende vermeintlicher Kleinigkeiten, in denen man eben nicht den Mund aufmacht und es einen trotzdem stört. Ich sagte, ich könne ihnen garantieren, dass ich kein Einzelfall bin. Aber es half nichts.

An eine Diskussion erinnere ich mich besonders. Da erklärte er, eiserner Brüderle-Verteidiger in meinem Alter, mir: Ich würde die Frauen zu Opfern stilisieren. Grund: Ich würde ihnen unterstellen, ihren Mund nicht aufmachen zu können, wenn sie etwas stört. Er habe ja ein stärkeres Frauenbild. Da habe ich gemerkt: Wir leben nicht in der gleichen Realität.
Ich dachte, wir wüssten es ja alle, zumindest mein Umfeld, alle Nicht-Brüderles. Ich dachte, sie wissen, dass wir bei sexistischen Kommentaren oft lächeln, damit die Situation vorbeigeht und nicht eskaliert — und nicht, weil es uns gefällt. Dass wir oft nichts sagen, damit die witzige Stimmung, auf die immer alle so viel Wert legen, nicht kaputtgeht. Damit wir nicht als Spaßbremse dastehen. Dass wir im Dunkeln immer mit lauter Musik an einer Gruppe Männer vorbeigehen und nur so tun, als ob wir sie nicht hören, obwohl wir es ja doch tun. Dass wir es dann — zu Hause angekommen — nicht Freund oder Freundin erzählen — aber nicht, weil es in Ordnung wäre, sondern nur, weil es so normal ist.
Ich fing also an, über diese Dinge zu reden und bemerkte erstens immer wieder diese zwei Realitäten. Und zweitens, dass ich natürlich kein Einzelfall bin. Viele meiner Freundinnen, auch starke, selbstbewusste Frauen, sind in einigen Situationen wie gelähmt und sagen nichts.
Und dann fragt man sich, wieso. Und dann kommst du eben auf die Idee, dass es keine individuellen Probleme sind, dass nicht jede Frau selbst schuld und Opfer ist, weil sie den Mund nicht aufmacht. Und dann fragst du dich: Woher kommt das?

Und dann kam ich eben darauf, woran es liegt. Um beim Beispiel mit dem Kollegen zu bleiben: Mädchen wird nicht gesagt: „Wenn du dich unwohl fühlst, dann sprich es aus.“ Ihnen wird nicht gesagt, dass Männer nicht das Recht haben, ungefragt ihr Alter, Geschlecht oder Aussehen zu bewerten. Ihnen wird nicht gesagt, dass es ihr Recht ist, anderen Grenzen aufzuzeigen. Mädchen wird gesagt: „Steh’ drüber, lächle das weg. Sei nett, sei lieb, sei keine Spielverderberin, achte auf die anderen, spiel’ dich nicht auf.“ Wie zur Hölle soll ich als Mädchen von Anfang 20 da auf die Idee kommen, den alten Redakteur zurechtweisen zu können? Ich hatte überhaupt kein Verhaltensrepertoire in petto, keinen Spruch, den ich ihm hätte entgegensetzen können. Ich war und bin mir sicher, dass ich nichts gesagt habe, weil Mädchen eben so erzogen werden, nichts zu sagen. Weil ihnen nie gesagt wird, dass sie „ihren Mann stehen müssen.“
Und wenn man das einmal an einem spezifischen Punkt erkannt hat, dass das eben erstens nicht mein persönliches Problem ist und zweitens nicht natürlich, dann gehen die Fragen weiter: Was ist eigentlich natürlich? Ist es natürlich, dass nur Jungs Fußball schauen? Ist es natürlich, dass Jungs meine Tasche tragen müssen, wenn sie so leicht ist, dass das eine Person — auch eine Frau — locker selbst schafft? Ist es natürlich, „dass Männer schlecht zuhören und Frauen schlecht einparken“? Ist es natürlich, dass es nur diese zwei Geschlechter gibt? Und dass nur Frauen Männer und Männer Frauen lieben? Woher kommt denn unsere Idee davon, dass dem so ist? Wer macht das? Vor allem: Muss das so sein? Und wenn nicht: Wie kann es sein? Kann es nicht sein, dass Jungs mit pinkfarbenen Ponys spielen und später als Väter die Kinder zu Hause großziehen wollen? Und dass Mädchen nach ganz oben auf das Klettergerüst klettern und später ihre Anwaltskanzlei schmeißen? Kann es nicht sein, dass wir alle irgendwann sein können, wie wir wollen, ohne — zum Beispiel! — auf unser Geschlecht und unsere sexuelle Orientierung zu achten? Brötchenverdienende Mütter, brötchenbackende Väter. Oder eben umgekehrt, who cares!

Seitdem bin ich eben der Überzeugung, dass nichts „einfach so ist“. Es ist irgendwie zu etwas geworden, das heißt, man kann es auch ändern. Ich will es ändern. Und zwar so, dass Menschen, egal wie sie leben, arbeiten, lieben, woher sie kommen, woher ihre Eltern kommen, gleich viel wert sind, die gleichen Rechte haben und frei sind. Wobei frei sein bedeutet, erstens eine Wahl zu haben. Also nicht sich nur für oder gegen die Norm entscheiden zu können, die man von Kleinauf vorgelebt bekommen hat — sondern eine Auswahl zu haben. Und zweitens nicht im Abseits zu stehen, wenn man von dieser Norm abweicht. Wie bekommt man das hin? Indem man die Norm kaputt macht.
Ich will die Norm kaputtmachen, damit es nicht mehr das Richtige gibt, damit es nicht mehr das Falsche gibt. So etwas muss im Großen passieren. Daher stören mich die Ideale der Kirche. Aber eben auch im Kleinen. Daher trage ich meine Tasche gern selbst, wenn ich das kann. Und wenn sie zu schwer ist, lasse ich mir gern helfen — und ob von Mann oder Frau, ist mir dann egal.“
Bestimmt drei Stunden hat mir Franziskus zugehört. Ich habe schnell geredet und durcheinander. Immer, wenn ich mich dafür entschuldigt habe, meinte er, es sei alles gut, ich solle weiterreden.
Er fragte nach, nie hat er mich unterbrochen oder mir widersprochen. Das heißt nicht, dass er jetzt meine Meinung teilt. Aber er hörte mir zu, respektiert meine Perspektive und will sie verstehen. Solche Gespräche habe ich nicht einmal mit allen Menschen aus meiner Lebensrealität.

Andere Perspektiven verstehen
Später in Roxel sprechen wir noch einmal über unseren Spaziergang. Es war ein ruhiger Moment, sagt Franziskus. Er sei froh, dass ich ihm meine Geistesentwicklung so dargestellt habe. Ich frage ihn, was aus dem Gespräch in Erinnerung geblieben ist. Er sagt, dass ich eben nicht immer so gedacht habe wie heute. „Du hast Dir viele Gedanken gemacht und reflektiert.“
In den vergangenen Monaten hatte ich oft das Gefühl, Franziskus will mich überhaupt nicht verstehen. Also schon, aber nur, um zu verstehen, wie er Menschen wie mich zum Glauben führen kann. Aber nicht, um einfach meinen Blick auf die Welt nachzuvollziehen. So wie ich es bei ihm tue, oder zumindest versuche, ohne, dass ich diesen Blick selbst annehmen will.
Aber dann sagt Franziskus etwas wie: „Es hat mir geholfen, Deine Perspektive zu verstehen.“ Und dann denke ich, wir versuchen es beide schon ziemlich.
Er liest gerade übrigens Margarethe Stokowski, deren Buch „Untenrum frei“ ich während unseres Spaziergang ein Dutzend Mal zitiert habe. Und ich lese dafür „Die Theologie des Leibes für Anfänger. Einführung in die sexuelle Revolution von Papst Johannes Paul II.“ von Christopher West. Danach reden wir wieder weiter.
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