Valerie ohne Priester

Kapitel 6: Zu dem Jahr mit Franziskus gehört auch, dass ich immer wieder nach Berlin fahre, in meine kirchenfreie Welt — eigentlich. Ganz so frei davon ist sie nicht mehr.

Valerie
Valerie und der Priester

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Valerie ohne Priester –hier in meiner Heimatstadt Magdeburg

In Berlin bin ich vor einer Weile mit meiner Mitbewohnerin an der Kirche nebenan vorbei geradelt. Ich sage zur ihr, was ich seit ein paar Monaten oft denke: dass ich nicht mal weiß, ob die katholisch oder evangelisch ist.

Wir machen einen Schlenker und fahren zurück: evangelisch. Es könnte sogar unsere Gemeinde sein. Wir sind beide noch als evangelische Kirchenmitglieder geführt. Aber nur, weil wir nie ausgetreten sind. Weil wir lange keine Kirchensteuer zahlen mussten. Jetzt will ich austreten — und wurde recht wütend als ich merkte, dass es — in Berlin zumindest — 30 Euro kostet.

An der Kirchentür hängt ein Schild: „Tag der offenen Kirchen“. Wir schauen einander an. Sollen wir? Wir sollen.

Ein bisschen Roxel ist jetzt auch in Berlin

Seit einigen Monaten lerne ich die Welt der katholischen Kirche kennen. Seit Ende April begleite ich den Priester. Alle paar Wochen oder Tage pendle ich zwischen Münster-Roxel, wo Franziskus lebt, und meinem Leben, das sich meistens in Berlin abspielt. Das war früher weitgehend religions-, kirchen- und glaubensfrei. Zumindest gefühlt. Oder eher: Zumindest haben wir nicht oft direkt über diese Themen gesprochen, höchstens indirekt über deren Auswirkungen.

Jetzt ist das anders. „Valerie und der Priester“ ist auch da, wenn ich nicht mit Franziskus unterwegs bin: in Gesprächen mit Freunden, in der Exkursion mit meiner Mitbewohnerin, wenn ich allein im Café oder auf meinem Balkon sitze.

Menschen beginnen mir von ihrem Glauben und Nicht-Glauben zu erzählen. Davon, warum sie Kirchenmitglied sind. Oder warum eben nicht. Ich habe tatsächlich eine Hand voll Katholiken in meinem Freundeskreis, zumindest auf dem Papier.

Da ist eine, die nur auf dem Papier evangelisch ist. Aber Kirchengebäude, sagt sie, geben ihr ein Gefühl von Geborgenheit.

Da ist der andere, der sagt, Religionen sind für ihn generell fragwürdig, wegen ihnen werden Kriege geführt.

Die eine, die katholisch aufgewachsen und „endlich“ raus ist, aber bei Familientreffen noch immer daran erinnert wird.

Oder der andere, der neulich einfach mal zum Gottesdienst gegangen ist. Er wollte sich das mal anschauen.

Raus aus der Kirche

Meine Mitbewohnerin und ich, beide 25 Jahre alt, betreten das steinerne Gotteshaus bei uns um die Ecke — und plötzlich könnten wir wieder 14 Jahre alt sein. Sie hat schwarze Haare, ich rote, auf unseren Jacken oder Hosen hängen „Gegen Nazis“-Aufnäher. Gleich, wenn unsere Konfistunde vorbei ist, fahren wir vielleicht noch in die Stadt, heimlich eine Zigarette rauchen. Unser Kennenlernen, die ersten Biere, unsere ersten (damals noch eingebildeten) Kopfschmerzen, als es zu viele erste Biere waren — daran denke ich, wenn es um meine Konfirmation geht.

Wir lachen in der Kirche in Berlin. Da kommt einer auf uns zu, ein Gemeindemitglied. Neue Leute werben, kenne ich aus Roxel. Wir reden über Berlin, die schöne Kirche, warum er hier ist und wir nicht. Ich erzähle ihm auch, dass ich austrete aus der Kirche, weil ich jetzt zahlen muss, das Geld aber lieber dem Verein eines Freundes spenden will. Der Mann sagt nichts.

Und irgendwie kommen wir dann auf das, was er „Genderideologie“ nennt. Letzte Woche erst habe ich mich mit Franziskus deswegen in die Haare gekriegt. Das Gemeindemitglied: „Die Medien“ würden da viel „pro Gender pushen“ (auf Nachfrage stellt sich heraus: das einzige Medium, das er liest, ist ein christliches Magazin aus der Schweiz). „Alles Gleichmacherei“. Was genau? „Zum Beispiel das mit den Schulbüchern, dass da Jungs Jungs küssen sollen“.

Vor der Nachbarskirche: Meine Mitbewohnerin und ich haben mal rein geschaut.

Ich stehe da in Berlin und bin auf einmal wieder in Roxel. Genau das gleiche hat Franziskus gesagt, in unserer ersten Woche schon. Schon da habe ich versucht ihm kurz zu erklären, dass Schulbuch-Thema und Gender zwei völlig verschiedene Dinge sind. Und dass Gender keine Ideologie sein kann, weil es erst einmal eine wissenschaftlicher Begriff, eine Perspektive, ist, und „soziales Geschlecht“ bedeutet.

Dem Mann hier in der Berliner Kirche erkläre ich, kurz gesagt, dass Homosexualität keine Ideologie sondern gelebte Realität ist; und das daher auch ruhig in Schulbüchern auftauchen kann.

Wir einigen uns, kurz gesagt, nicht.

Diese Idee, dass da etwas sein könnte.

Einmal sitze ich mit ein paar Freunden in einer Bar. Einer sagt, frag mal deinen Priester, wie das gehen soll: dass der Gott einerseits allmächtig ist, dann barmherzig und dann so viel Schlimmes passiert.

Einmal telefoniere ich mit einem Freund, der sagt, frag mal deinen Priester, was er zu einer Frage Albert Einsteins sagt: Wenn Gott alles schaffen kann, könnte er dann auch einen Stein erschaffen, den er selbst nicht heben kann?

Es sind Fragen der Logik. So oder so ähnlich habe ich sie schon Franziskus gestellt. Und habe ihn natürlich nicht vom Glauben abgebracht. Ich antworte also all diesen Freunden, dass es so nicht funktioniert. Franziskus glaubt. Das kann man nicht rational widerlegen. Wie kann all das Leid erklärbar sein? „Weil Jesus den Menschen die Freiheit geschenkt hat.“ Ich höre Franziskus aus mir sprechen.

Einmal sitze ich in einem Café, ich schreibe an dem Blog, der Kellner bringt die Rechnung. Es ist weniger als gedacht, ich schaue auf den Zettel: Die Eisschokolade fehlt. Zuerst will ich etwas sagen, dann stocke ich, wäge ab, denke: So viele haben schon Zeche geprellt. Sage aber: Die Eisschokolade fehlt.

Und weil ich gerade sowieso vor dem Blog sitze, denke ich an Franziskus: Der hätte nicht eine Sekunde gezögert die Schokolade zu zahlen. Weil er ja nicht stehlen, lügen oder des Nächsten Hab und Gut begehren soll — sagen die zehn Gebote. Und Gott sieht alles.

Und ich? Warum habe ich das gemacht?

Arbeits Platz von “Valerie und der Priester”, wenn Valerie ohne Priester ist: mein Balkon.

Man könnte sagen: Weil es halt richtig ist. Franziskus nimmt das Richtige und Falsche aus der Kirchenlehre. Und ich? Darüber denkt man ja selten aktiv nach, aber es ist wohl ein Mix aus Erziehung, Schule, Studium, Freunden, Gesellschaft (die ja auch auf christlichem Fundament entstand) — sie alle prägen einen.

Ich will halt nicht, dass der Kellner nachher bei der Abrechnung mit weniger nach Hause geht, als er sowieso schon bekommt. „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst“ — die Goldene Regel der Praktischen Ethik. Funktioniert ganz ohne Gott.

Wenn ich in Berlin auf meinem Balkon sitze, schaue ich auf einen Altbau. Der besteht aus Backsteinen, die Fensterrahmen haben einen bestimmten Gelbton, dessen Name ich nicht weiß. Aber wenn die Sonne abends tiefer steht, dann werden die Rahmen golden. Einer der Mieter des Altbaus, ganz oben, hat in jedes seiner Fenster drei Blumentöpfe gestellt. Es sieht aus wie gemalt.

Dann mache ich mir manchmal bewusst, dass fast 500 Kilometer entfernt gerade Franziskus seinen weißen Talar anhat, vielleicht gerade das Brot hoch hebt oder es schon an die vielleicht 20 Gottesdienstbesucher verteilt. Ich denke viel an das Projekt, wenn ich in Berlin bin, an Termine und Texte. Selten denke ich, zumindest bewusst, daran was Franziskus in diesen goldenen Fensterrahmen mit Blumentöpfen dazwischen sehen würde — er würde Gott erkennen. Wie er in allem Schönen Gott erkennt.

In Franziskus Küche hängen Kreuze, bei uns eine Diskokugel

Millionen Menschen, Katholiken, Protestanten, Muslime, Juden und bestimmt auch viele, die offiziell keiner Weltreligion angehören, sehen in schönen Dingen Gott. Und Millionen andere denken einfach nicht an diese Möglichkeit. Selbst ich, die ich seit Monaten versuche, die Welt durch Franziskus Augen zu sehen, vergesse es meistens wieder: Diese Idee, dass da etwas sein könnte. Ich freue mich über Schönheit in der Welt, klar, aber ich habe nicht gleich das Bedürfnis sie erklären zu wollen.

Niemand in Deutschland kann der christlichen Kirche aus dem Weg gehen. Auch nicht Leute, die sagen, sie seien kirchenfern oder unreligiös — wie ich. Das Christentum ist überall: Die Kreuze hängen in unseren Klassenzimmern, der Staat zahlt Bischofsgehälter und wir die Steuern. Wir sagen Dinge wie „Schuppen von den Augen fallen“ und wissen oft nicht, dass das aus der Bibel kommt. Selbst die Goldene Regel der praktischen Ethik ist in Europa durch die Bergpredigt bekannt geworden. Spätestens merken wir es, wenn am Sonntag das Klopapier ausgeht und alle Geschäfte geschlossen sind.

Obwohl das Christentum, die Kirche, alle betrifft, gehen die meisten — aus meiner Lebensrealität — nicht mehr in die heiligen Steingemäuer. Sie reden auch nicht mit Leuten, die hinein gehen. Keine Zeit dafür oder oft interessiert es sie wohl auch nicht. Sowieso alles nur Spießer, die dort sind.

Habt Ihr eine Ahnung, was ich denke?

Manchmal sitze ich Franziskus gegenüber und mir fällt auf: Du hast keine Ahnung, warum ich so wütend werde, wenn ich das Heft auf deinem Schreibtisch sehe: „Die Genderideologie. Ich lasse mich nicht zur Äffin machen.“ Du weißt nicht, warum ich die Idealbilder der Kirche fatal finde und auch nicht, was ich denke, wenn ich abends im Bett liege — und was mich glücklich macht. Interessiert es dich? Oder denkst du, ich kann sowieso nicht glücklich sein, bis ich „die Wahrheit“ erkannt habe — die Lehre der katholischen Kirche.

Das denke ich nicht nur bei Franziskus natürlich.

Ich war zu spät dran mit der Kamera, da war der goldene Moment schon vorbei.

Der Mann hier in Berlin in der Kirche — was wollte der, warum hat er uns angesprochen? Hat er gedacht, er ist bei uns sowieso auf verlorenem Posten und hat deswegen gleich das Thema „Gender-Ideologie“ angeschnitten, um ein bisschen zu streiten? Oder hat er wirklich gedacht, dass wir nicht „zu denen“ gehören — weil man sich mit uns ja nett unterhalten kann?

Einer schrieb mir mal, nachdem Franziskus und ich in einem Video über Sex gesprochen haben, dass er an Franziskus Stelle mal zurück gefragt hätte. Er unterstelle mir, der Spaß-Aspekt am Sex sei für mich auch nicht der zentrale. Ich habe darauf nicht geantwortet.

Er hat anscheinend — wie die meisten — ein bestimmtes Bild im Kopf, wie Frauen aussehen und auftreten, denen der Spaß-Aspekt wichtig ist. Wie generell die meisten Menschen vom Aussehen und Auftreten von Frauen Rückschlüsse auf sie als Mensch ziehen und das dann bewerten.

Franziskus Welt gibt es auch hier

Ich sitze da auf meinem Balkon und es ist alles wie immer und ich mache mir bewusst, dass 500 Kilometer entfernt die Realität von Franziskus existiert. Dann schaue ich auf den Turm der Kirche nebenan und denke an das Gemeindemitglied mit dem wir gesprochen haben. Bald sitzt er vielleicht wieder da und hofft, dass jemand vorbei kommt.

Franziskus Realität existiert auch hier, neben mir.

Ich schaue rüber zu der alten Dame, die direkt gegenüber von mir wohnt. Ich schaue vom Balkon aus direkt auf ihr Wohnzimmer. Dort ist immer nur sie, niemand sonst. Zwei- oder drei Mal am Tag schaut sie aus dem Fenster, aber nie zu mir herüber, sondern immer runter auf die Straße.

Es gibt viel, das wir nicht wissen.

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