Das letzte Kapitel

Das war ein Jahr, ein Rückblick.

Valerie
Valerie und der Priester

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Als ich vor einem Jahr nach Roxel kam, interessierte mich vor allem eine Frage: Warum wird jemand heutzutage Priester? Also jemand wie Franziskus, der alles hätte machen können. Wieso entscheidet er sich für ein Leben in Verzicht: ohne Frau, ohne freie Sonntage, ohne Sex.

Ich wollte Franziskus verstehen, also wirklich verstehen. Ihn nicht nur sagen hören: „Weil Gott mich berufen hat.“ Sondern versuchen, die Welt aus seinen Augen zu sehen.

Kann ich das jetzt?

Der schönste Blick auf die St. Pantaleon Kirche in Münster-Roxel

Als ich im vergangenen April hier in Roxel ankam, hieß es für mich erst einmal: Mithalten im katholischen Flow, irgendwie. Franziskus rannte durch Lebensereignisse von Menschen, von der Taufe über die Ehe, später auch bis zum Tod — ich rannte mit. Zwischen den einzelnen Terminen versuchte ich eine Ordnung in meinen Kopf zu bekommen zwischen Eucharistie, Kommunion, Tabernakel, Monstranz und vielen anderen Begriffen, die ich nicht verstand. Ich fühlte mich wie ein Kind, das eine neue Sprache lernen muss.

Franziskus tat und glaubte Dinge, die von außen betrachtet völlig verrückt erscheinen, schon allein die Wandlung der Hostien in der Messe in den, so glaubt er, Leib Christi. Es war nicht immer einfach, das ernst zu nehmen. Also auf Augenhöhe zu bleiben, sich nicht einfach darüber lustig zu machen. Aber ich nahm mir vor, es zu versuchen. Denn ich wollte Franziskus nicht belächeln. Genauso wenig wie die anderen Menschen, die ich kennenlernte. Ich konnte beobachten, wie zärtlich sie aussehen, wenn sie beten. Und diese Zärtlichkeit war ja nicht verrückt, sondern echt. Da passierte einfach etwas, von dem ich nichts verstand, sie sahen etwas, das ich nicht sah.

Doch bevor ich das weiter verstehen konnte und wollte, standen mir Themen im Weg, die mein Innerstes berühren, und die Franziskus „Reizthemen“ nennt. Das Feedback kam von vielen Menschen katholischen Glaubens: Sie können es nicht mehr hören — Frauenpriestertum, Homosexualität, Missbrauchsskandal… Aber genau diese Punkte sind mir als erstes eingefallen, als ich an die katholische Kirche dachte. Und sie waren für mich ein Widerspruch zu Gottes Liebe, von der Franziskus immer erzählte.

Das erste Fotoshooting im Mai 2016

Wir sprachen über all das. Manchmal konnte ich Franziskus’ Position nachvollziehen, wie in unserem Gespräch über den Missbrauchsskandal: Die Kirche ist für ihn eben Familie. Sie hört also nicht auf, Familie zu sein, selbst, wenn einige Menschen Unverzeihliches tun. Man kann nicht aussteigen, will das auch nicht, weil man sich sagt: Jetzt müssen wir erst recht allen zeigen, dass Kirche mehr ist als das.

In anderen Gesprächen liefen wir gegen Wände, wie bei der Diskussion über das Frauenpriestertum. Normalerweise, wenn man sich mit Menschen partout nicht einigen kann, geht man diesen irgendwann aus dem Weg. Zumindest, wenn es um Themen geht, die einem wichtig sind. Und Gleichberechtigung ist für mich mehr als wichtig.

Aber Franziskus und ich konnten uns nicht aus dem Weg gehen. Und wir konnten auch nicht aufhören, miteinander zu sprechen, zumindest hätte das Jahr sonst sehr wenig Sinn ergeben.

Und es funktionierte. Wir verstanden uns, obwohl wir in einigen Positionen einen so anderen Standpunkt haben. Keiner von uns hat seinen Standpunkt geändert. Wir haben nur gemerkt, dass ein Standpunkt nicht den ganzen Menschen ausmacht. Die Welt ist nicht schwarz-weiß — und ein Mensch eben auch nicht.

Die Kirche

Spätestens beim Weltjugendtag merkte ich, was der Glaube Menschen geben kann. Ich traf Menschen in meinem Alter, die genau in meine Welt passen, mit dem Unterschied, dass sie eben an Jesus Christus glauben. Das irritierte mich zuerst, weil ich es nicht kannte. Am Ende konnte ich es nachvollziehen. Denn ihr Glaube bedeutet für sie Gemeinschaft, Halt, Vertrauen, einen Grundfrieden und die Hoffnung des Himmels auf Erden — und auf den Himmel danach.

Aber was ich nach diesen zwei Wochen beim Weltjugendtag vielleicht noch weniger verstand: Wieso Priester? Man braucht doch dieses Amt nicht, um seinen Glauben zu feiern. Man könnte seinen Glauben leben, ohne zu verzichten.

Ich hörte Franziskus’ Antworten: dass er den besten Beruf der Welt habe; dass er nichts vermisse; dass er nie bereue. Aber ich verstand es nicht. Ehrlich gesagt, konnte ich es auch nicht wirklich glauben.

Aber ich wollte ihm glauben. Warum? Weil ich ihn mochte. Denn ich wollte ja auch nie schlecht von ihm denken, sondern verstehen, wie er als ein aus meiner Sicht guter Mensch zu bestimmten Standpunkten kommt. Vielleicht ist Sympathie die Voraussetzung, um ein Verstehen erst möglich zu machen. Sympathie und Vertrauen. Das hat immer zwischen Franziskus und mir geherrscht, auch in schwierigen Momenten.

Franziskus und ich versuchten also, uns als Menschen zu begegnen. Wir stritten nicht mehr, sondern hörten uns gegenseitig zu. Er besuchte mich in Berlin, wir fuhren in seine Heimatstadt Menden. Gemeinsam erkundeten wir Rom. Und wir redeten, redeten, redeten. Und ich begleitete ihn natürlich weiter, sah praktisch, was er mir theoretisch erklärt hatte. Hier in Roxel bei verschiedenen Messen, bei Krankenkommunionen, Messdienerstunden, bei einer Beerdigung.

Der erste Twitter-Eintrag vom V&P-Account vor einem Jahr

Und immer wieder und immer mehr hatte ich Aha-Momente. Nicht, weil Franziskus mir das vorher nicht gesagt hätte; sondern, weil mir die Dauer unserer gemeinsamen Zeit, ein ganzes Jahr, die Möglichkeit dazu gaben, dass es auch bei mir ankam: Natürlich, klar: Die Kirche gibt Franziskus Halt, sie ist Familie; er liebt sie so sehr, dass seine Verbindung mit ihr keine Entscheidung ist, sondern einfach da ist. Und Gott liebt uns alle unendlich — ganz egal, was wir tun. Die Beziehung zu ihm zu leben, macht uns glücklich. Und der Herr ist unendlich barmherzig und gut.

Der erste Fakt: Gott liebt uns

Wenn man all das erstmal akzeptiert, ergibt aus dieser Perspektive heraus auch Sinn, was man von außen betrachtet nicht verstehen kann. Zum Beispiel die ganze Auslegung der Bibel. Ich meine: Im Alten Testament tötet Gott Neugeborene. Das kann nun wirklich niemand wollen. Trotzdem sagt Franziskus, Gott ist unendlich gut und barmherzig — und legt die Bibel so lange aus, bis die Interpreation eben in sein Gottesbild passt, aber in jeder Deutschklausur durchfallen würde. Warum tut er das also?

Weil er noch eine andere Interpretationsgrundlage hat als den Bibeltext. Für Franziskus gibt es vor diesem einen anderen, ersten, unumstößlichen Fakt: dass Gott gut ist. Barmherzig. Dass er uns liebt. Das weiß Franziskus aus seiner persönlichen Jesuserfahrung. Eine Interpretation, die diesem Fakt widerspricht, ist aus seiner Perspektive also schlicht: durchgefallen.

Meine Anweisung an Franziskus war eigentlich: Schau mal traurig!

Natürlich habe ich jetzt nicht die ganze katholische Theologie und Institution verstanden. Das war auch nie der Anspruch, konnte es nicht sein, dafür ist ein Jahr zu kurz. Ich habe bewusst auch nicht die Bibel gelesen (außer der Bergpredigt; krasses Stück). Theologische Diskussionen sind wichtig, aber die müssen andere führen. Für mich war es wichtig, Franziskus als Menschen zu verstehen.

Und ich verstand, dass Franziskus und ich beide das Beste für — jeden einzelnen — Menschen und die Welt wollen. Nur haben wir einen unterschiedlichen Weg, das zu erreichen. Ich finde seinen Weg noch immer nicht in allen Teilen gut; aber heutzutage ist ja nicht einmal mehr dieses Ziel selbstverständlich. Also, wenn ich nicht mit Franziskus darüber sprechen kann, mit wem sonst?

Das ist für mich eine der wichtigsten Erkenntnisse aus diesem Projekt, auch für mein persönliches Leben: Dass es möglich ist, dass zwei Menschen herzlich miteinander umgehen, sich wirklich mögen, obwohl sie so unterschiedlich sind und so unterschiedliche Meinungen haben. Das mag zuerst banal klingen. Gerade dieses politische Jahr hat mir gezeigt, dass es das nicht ist.

Ich weiß nicht mehr, wie es kam, aber ich begann im Laufe der Monate Franziskus anders zuzuhören. Es kam auf einmal an, was er sagt. Ich glaubte ihm. Wenn er zum Beispiel sagte, dass er wirklich keine Angst habe, etwas zu verpassen — im Gegenteil.

Und daher saß ich irgendwann in einer Messe, überlegte, was ich Franziskus für den nächsten Artikel in Bezug auf sein Priesterleben frage und: Mir fiel nichts ein. Keine Frage, die ich ihm stellen könnte, die ich nicht selbst beantworten könnte. Mir fiel kein Grund ein, warum er, Franziskus von Boeselager nicht Priester sein sollte.

Ich kann immer noch nicht in Franziskus hineinschauen. Kann also nicht fühlen, was er fühlt, wenn er für und zu Jesus Christus betet. Aber ich konnte ihm ein Jahr lang von außen dabei zusehen. Beobachten, wie er lebt; zuhören, wie er versucht, das Unbegreifliche in Worte zu fassen; sehen, wie eben diese Zärtlichkeit beim Beten in seiner Stimme liegt. Und schon das reichte, um zu sagen: Die Antwort, wieso man sich als jemand wie Franziskus für dieses Leben entscheidet, ist: Für Franziskus ist dieses Leben kein Verzicht. Es ist ein Geschenk. Für ihn heißt das Priesterleben, angekommen sein, angenommen sein. Wieso sollte man sich nicht dafür entscheiden?

Ich habe in diesem Jahr viel darüber gelernt, was der Glaube einem geben kann. Und viel über Perspektiven. Eine Entscheidung muss nicht irrational sein, nur, weil es nicht meine ist. Aus Franziskus’ Perspektive ist es ganz logisch, dass er Gott sein Leben widmet. Es gibt für ihn kein besseres Leben als dieses.

Film ab! Hier in Franziskus’ Wohnung haben wir viele Videos gedreht

Und ich? Ich bin am Ende dieses Jahres nicht katholisch geworden. Auch kann ich nicht sagen, dass ich an „Gott“ glaube, weil da für mich ein christliches Konzept vom personalen Gott dranhängt. Aber ich kann auch nicht sagen, dass da nichts ist. Weil alle Menschen, die ich im vergangenen Jahr kennenlernen durfte, dann verrückt wären, weil alles, was sie sagen, Einbildung wäre. Aber ich will sie nicht für verrückt halten, erstens.

Und zweitens will auch ich in der Kirche meine Kerze anzünden und glauben, dass es etwas bringt. Und mit Verstorbenen sprechen und in ausweglosen Situationen ein Stoßgebet zum Himmel schicken, ohne zu denken, dass ich Selbstgespräche führe.

Aber egal, ob man das alles glaubt oder anders glaubt oder gar nichts glaubt: Jeden Tag reichen sich Menschen überall auf der Welt während des „Elfriede-Moments“ die Hand und wünschen sich Frieden. Das ist wirklich irre. Und wunderschön.

Nach meiner ersten Woche in Roxel war ich so froh, dieses Projekt machen zu können, was so irre, verrückt und ja, auch einzigartig ist. Und weil es so gut lief, ich Franziskus und alle, die ihn umgeben, mochte, stand ich auf dem Weg zurück nach Berlin am Bahnhof und dachte: „Danke.“ Damals schrieb ich: „Das denke ich oft, wenn etwas gut läuft. Was neu ist: Ich frage mich, an wen das jetzt ging.“

Genau weiß ich das also immer noch nicht. Aber:„Danke“ habe ich noch oft gedacht. Und zumindest an ein paar Menschen kann ich es an dieser Stelle richten: Danke, dass ich „Valerie und der Priester“ machen durfte. Danke an Erik Flügge, den Ideengeber; an Michael Maas, den Auftraggeber, an Ingmar Neumann, Martina Hecht, Manuel Vowinkel, Frédéric Ranft, Can Erdal und Lucas Gerrits — alle, die im Hinter- und Vordergrund „Valerie und der Priester“ ermöglicht haben. Danke an Christian Schmitt und Timo Weißenberg, Franziskus’ Mitbewohner, die mich mit an ihren Tisch und in ihr Haus ließen; danke an die Gemeinden in Roxel, Albachten und Mecklenbeck, die mir immer mit Neugier statt Skepsis begegneten. Danke an all die Menschen, die uns begleitet haben, ob im Gebet oder mit gedrückten Daumen. Und, natürlich, danke an dich, Franziskus, für deine Offenheit, Ehrlichkeit und alles andere.

Das Projekt ist jetzt vorbei, aber ich denke nicht, dass es ein Ende dieser Geschichte ist. Nur weniger öffentlich, und vielleicht nicht mehr „Valerie und der Priester“, sondern eher „Valerie und Franziskus.“

Jetzt, nach dem offiziellen Ende des Projekts, setze ich mich an ein Buch über das gemeinsame Jahr von Franziskus und mir. Natürlich wird sich einiges aus dem Blog wiederfinden (geht ja um das gleiche Jahr). Aber es wird mehr als keine bloße Aneinanderreihung der Blog-Einträge, sondern noch einmal ein neues Produkt. Im Frühjahr 2018 wird es voraussichtlich erscheinen.

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