Vielleicht fühlen wir ja das gleiche. Oder: Auf ewig Hardcore

Kapitel 11 — Franziskus und ich haben noch zwei Monate miteinander. Eine kleine Zwischenbilanz von der Zielgeraden: Wie er mir erklärt, was mir fehlt und wie ich in Berlin ohne ihn eine Kirche gehe.

Valerie
Valerie und der Priester

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Franziskus und ich in der St. Pantaleon Kirche in Roxel

Vor ein paar Wochen habe ich in der Kirche gesessen, das erste Mal „damals“ gedacht und festgestellt: Wow, bin ich schon lange hier.

Es ist jetzt schon ein Jahr her, dass ich Franziskus das erste Mal getroffen habe. Da hatte der Blog noch nicht begonnen, es war unser Vorabtreffen. Seitdem ist es einmal Sommer geworden und einmal Winter. In meiner kältesten Messe saß ich gleich an Tag 1, ich war einfach nicht vorbereitet. Von der vermutlich heißesten habe ich nur die Hälfte mitbekommen — sie wurde gehalten vom Papst, den ich aber nicht sehen konnte, das war beim Weltjugendtag.

Wenn dieser Text hier erscheint, ist Franziskus gerade zwei Wochen in der Wüste, Exerzitien mit seiner Gemeinschaft Emmanuel. Ich werde drei Wochen in Kuba sein. Ein bisschen den Kopf frei bekommen vor dem Finale. Ein bisschen darüber nachdenken, was alle immer fragen: Hat dich dieses Jahr verändert? Hast du etwas gelernt? Was denkst du? Was glaubst du?

Schon Zeit für ein bisschen Rückblick: Fotos aus der ersten gemeinsamen Woche von Franziskus und mir

Ich weiß noch, dass das Wort, was ich in den ersten Monaten am häufigsten gedacht habe, „Brainfuck“ war — ich weiß, das sagt man nicht, aber so war es eben. Es war auf allen Ebenen irre. Ich bekam meine zwei Realitäten einfach nicht in meinen Kopf hinein und kam überhaupt nicht mit. Es war immer aufregend, immer schön, aber auch immer ein bisschen zu viel.

Es war schwer, Menschen Dinge tun zu sehen, die rational nicht nachvollziehbar sind — und das dann ernst zu nehmen. Anzunehmen, dass das für sie Realität ist und Sinn macht. Wenn zum Beispiel aus Leitungswasser plötzlich geweihtes Wasser wird, nur, weil Franziskus mal eben ein Kreuz-Zeichen darüber gemacht hat. Oder wenn sich Männer in eine Reihe knien, um sich von anderen Männern an den Kopf fassen zu lassen. Oder eben diese ganze Anbetungssache.

Ich kann gar nicht mehr sagen, seit wann es für mich normal geworden ist, ich mich darüber also nicht mehr wundere. Ich kann nur sagen, dass die Menschen, die ich im vergangenen Jahr kennenlernte — und vor allem Franziskus — bewirkten, dass ich tat, was ich konnte, um sie ernst zu nehmen.

Handauflegung bei einer Priesterweihe, die Franziskus und ich im Juni besuchten

Mittlerweile habe ich in Diskussionen schon öfter „die Kirche“ verteidigt. Genau, weil — was ist denn „die Kirche“?

In einer Diskussion, noch in den ersten Monaten, sitzt mir eine Frau in meinem Alter gegenüber. Sie hat die Bibel komplett gelesen — womit sie mehr geschafft hat als ich. Sie erklärt mir: „Die Kirche ist schlecht.“ Wir versuchen das zu differenzieren, sie führt berechtigte Punkte an, die auch ich kritisch sehe (einmal hier, hier, hier, hier zum Nachlesen). Aber sie kommt immer wieder auf diesen einen pauschalen Satz zurück. Und das stört mich.

Ich versuche, ihr zu erklären, dass sie auch bei der katholischen Kirche nicht einfach pauschalisieren darf. Und dass sie eben nicht von „der Kirche“ sprechen kann, um dann zu meinen, das sei ja nur die Institution. Institution und Menschen seien nicht komplett zu trennen. Wenn sie also sage, „die Kirche“ sei schlecht, verurteile sie auch gleichzeitig alle Menschen, die dieser angehören — als schlecht oder einfach dumm. Ich sage ihr, dass ich viele von ihnen in den vergangenen Monaten kennengelernt habe. Und: So ist es eben nicht.

Wie sieht Franziskus die Welt?

In anderen Gesprächen mit kirchenfernen Menschen versuche ich, den katholischen Erklärbär zu spielen. Um Theologie oder kirchliche Strukturen verstehen zu können, bräuchte ich ein ganzes Studium. Aber ich versuche, zumindest Franziskus’ Sicht auf Dinge beizusteuern.

Ich glaube, meistens gelingt mir das mittlerweile ganz gut. Aber was mir fehlt, vermutlich immer, ist das letzte Verstehen — ich kann Franziskus’ Perspektive nicht annehmen.

Und noch mehr Rückblick. Links: Timo, wir gehen jetzt da lang und dann drückst du einfach drauf und dann haben wir es! Rechts: Erstes Valerie-und-der-Priester-Selfie. Da saßen wir im Flugzeug und waren unterwegs nach München.

Es war kurz nach der Halbzeit, nach unseren Briefen, da fragte ich Franziskus, was ich seiner Meinung nach noch tun müsse in den letzten Monaten. Er sagte: begleiten, begleiten, begleiten. Ich sagte, das ich das ja schon getan hätte und alles gesehen hätte und fragte weiter. Er druckste herum, antwortete nicht wirklich.

Dann schrieb er mir am nächsten Tag eine Mail:

„Mich hat das Ende unseres letzten Gesprächs nicht mehr losgelassen, vornehmlich Deine Frage, was Du meiner Meinung nach ändern könntest, um meine Glaubensperspektive besser nachvollziehen zu können. Mir ist aufgegangen, dass die Antwort scheinbar ganz einfach und logisch, aber für Dich wahrscheinlich nicht haltbar bzw. zumutbar ist.

Die möglicherweise gleichzeitig (von mir nicht als solche intendierte!) provokante, aber einzig richtige Antwort lautet nämlich:

  • dass Du vielleicht noch eine gewisse innere Distanz aufgeben müsstest
  • dass Du dem Entdecken und Nachvollziehen dahingehend noch mehr Zeit geben müsstest, Dich den Momenten mehr zu stellen, die für mich Momente des Zapfens an der Quelle sind (Bibel-/geistliche Lektüre; Gebet und Messe)
  • dass Du versuchst, Dich noch mehr auf eine mögliche Gottesbegegnung einzulassen und Dich bewusst dafür zu öffnen, was Gott Dir womöglich schenken möchte. Das würde dann bedeuten, dass Du nicht „nur“ wie bisher da bist und zuhörst, sondern quasi zu Gott (dessen Existenz Du für Dich noch nicht ausdiskutiert haben magst) sagst: „Wenn ich mehr nachvollziehen soll, dann hilf mir doch dabei. Wenn Du mir mehr zeigen willst, dann zeige es. Wenn es Dich gibt, dann zeig Dich.“ Und ihm dann ausreichend Gelegenheit gibst, es zu tun.“

Er schrieb dann noch, dass ich das nicht als Affront verstehen soll, aber dass es das sei, was er denkt und fühlt: Nur so könne ich erkennen.

Mein erstes Shooting mit Franziskus. Ja, ich kletterte auf Stühle; ja, ich lag auf dem Boden — alles geben für „Valerie und der Priester“!

Ich rief Franziskus direkt danach an und sagte ihm, dass ich es nicht als Affront verstehe — ich hatte ja danach gefragt. Und ich verstand, was er meint: Ich kann mich daneben setzen, wenn er betet; ich kann mich in die Kirche setzen und das alles schön finden und auf dem Weltjugendtag mit anderen feiern. Aber ich kann eben nicht fühlen, was Franziskus fühlt. Oder?

Nightfever, nightfever — we know how to do it

Ich habe meine Gedanken durch die letzten Monate schweifen lassen. Da ist mir eine Szene immer wieder eingefallen.

Es ist mein erster Samstag in Roxel, Franziskus und ich gehen zum „Nightfever“ — einem Anbetungsabend. In den Altarraum wird die geweihte Hostie gestellt, die Kirche ist dunkel bis auf Kerzenlicht, dazu spielt romantisch-kitschig-schöne Musik. Menschen kommen, zünden Kerzen an, setzen sich in die Kirchenbänke, um zu beten. Franziskus als Priester sitzt währenddessen an der Seite der Kirche und nimmt Beichten ab. Weil er mir zuvor erzählte, dass das vier Stunden so gehen wird, habe ich zur Sicherheit eine Zeitschrift in der Tasche.

Nightfever in Münster

Aber ich lese sie nicht. Stattdessen setze ich mich irgendwann auf einen Teppich vor der ersten Kirchenbank, schaue mal auf die Kerzen, mal auf die Menschen. Immer wieder kommt jemand, um eine neue Kerze anzuzünden.

Da ist zum Beispiel ein Paar: Sie knien sich nebeneinander vor die Kerzen, schweigen. Irgendwann dreht er sich zu ihr, greift ihre Hand, lächelt, sie lächelt zurück, dann schauen sie wieder nach vorn in Richtung Hostie. Ihre Hände halten sie weiter.

Und da ist das Mädchen, vielleicht neun Jahre alt, sie sitzt einfach da, gefühlt ewig, mit gefalteten Händen und schaut auf die Kerzen. Zwischendurch mache ich ein paar Fotos. Und plötzlich sind die Stunden vorbei.

Vor dem Altarraum zünden Menschen Kerzen an

Am Ende gehen alle nach vorn für das Nachtgebet, ich stehe irgendwo an der Seite. Da sehe ich Franziskus im Mittelgang, er schaut sich um, wohl nach mir, aber sieht mich nicht. Also geht er nach vorn zu den anderen. Und das ist die Szene, die sich bei mir einprägen wird. Es ist die Art, wie er geht.

Er geht nicht nur, er eilt, als ob da etwas wartet, das er noch nie gesehen hat, eine Erwartung, eine Sehnsucht geht mit ihm. Und als er vorn steht, stellt er sich breitbeinig auf, die Arme hat er angewinkelt, seine Hande hält er auf Hüfthöhe, die Innenflächen nach oben gerichtet, den Kopf hat er leicht im Nacken und er singt, und in seinen Brillengläsern spiegelt sich das Licht vom Altarraum.

Nightfever, nightfever — we know how to show it

Nach Franziskus’ E-Mail entscheide ich mich, noch mal zum „Nightfever“ zu gehen. Dieses Mal in Berlin, in Münster kenne ich schon zu viele Leute. Mich begleitet ein Freund. Er ist kirchenfern, nicht getauft, aber bestreitet die Wirkung von Kirchen und Orgelmusik genauso wenig wie ich. Als ich ihm einmal erzählte, wie schön ich die letzte Messe an Weihnachten gefunden hatte, sagte er: „Werd bloß nicht katholisch.“ Und lachte.

„Nightfever“ findet in einer Kirche in Schöneberg statt. Als wir reinkommen, stehen wir erst mal eine Weile hinten. Es ist wie in Münster: Kerzenschein und romantische Musik. Mein Freund sagt: „Man kann schon nicht leugnen, dass das absolut lässig aussieht.“

Nightfever in Berlin — Zitat Freund: „Man kann schon nicht leugnen, dass das absolut lässig aussieht.“

Wir zünden beide eine Kerze an und setzen uns, schweigen, schauen uns um. In der Reihe neben uns sitzt eine junge Frau allein, sie singt „Jesus berühre mich“, als ob er ihr wirklich gegenüberstehen würde; die Frau hinter ihr weint sogar. Vorne zünden Menschen Kerzen an und stellen sie ab; daneben knien Menschen aus den Bänken, ihre Köpfe sind nach unten gerichtetet, im Hintergrund hört man Gitarre, Keyboard und Akkordeon.

Es ist schön, friedlich. Aber wenn ich nach vorne schaue, auf die Hostie, denke ich trotzdem gleichzeitig an tausend andere Dinge (ein bisschen wie in Rom). Was mich aber fesselt, weil berührt: wenn ich mich umschaue und die Menschen sehe. Sehe, was das, was auch immer sie da gerade fühlen, mit ihrem Ausdruck macht. Ihre Gesichtszüge sind friedlich, ihr Blick zärtlich. Sie schauen nach vorn, als ob sie dort etwas sehen, was ich nicht sehe.

Nach einer halben Stunde gehen wir, andere Termine. Er sagt danach, er hätte noch länger bleiben können. Warum? „Weil es beruhigend ist; man ist einfach da und denkt an nichts anderes.“

Ich erzähle ihm, was ich mir schon gedacht habe, als ich in der Vorweihnachtszeit mit meiner Mitbewohnerin in einem Gottesdienst war: Ich frage mich, ob es im Interesse der Gläubigen ist, wenn Menschen wie wir „Nightfever“ besuchen. Wir glauben nicht an das, was dahinter steht — Gott, die Kirche. Wir stehen nur auf die Musik, die Location, die friedliche Stimmung. Wir sind quasi Atmo-Schmarotzer. Das kann aus ihrer Perspektive ja nicht der Sinn sein?

Er sieht das anders. Die Gläubigen würden sich über jeden freuen, auch über uns: „Das, was du Atmosphäre nennst, ist für sie ja Gott.“ Wir verabschieden uns. Auf dem Nachhauseweg denke ich darüber nach, was er gesagt hat: Fühlen Franziskus und ich das Gleiche, und er nennt es nur anders?

Und noch einmal Porträt-Aufnahmen wie in der ersten Woche

Ob Franziskus und ich einander einmal voll verstehen werden, weiß ich nicht. Vermutlich nicht. Wenn dem so wäre, würde einer von uns wahrscheinlich sein ganzes Leben umkrempeln. Aber ich will zumindest nachvollziehen. Ich will mitnehmen, was ihm wichtig ist. Und das will mir Franziskus nicht erzählen, sondern zeigen — daher meinte er: begleiten, begleiten, begleiten.

Wo und was ist Gott?

Franziskus hat einen Jugendgebetskreis gegründet. Sie treffen sich alle zwei Wochen, es kommen jeweils acht bis siebzehn Jugendliche, Tendenz steigend. Am Anfang singen sie gemeinsam, dann tauschen sie sich aus, am Ende gibt es Pizza.

Die Jugendlichen sprechen über Gott. Sie erzählen, wie Gott ihnen begegnet, wie oft sie in die Kirche gehen, ob sie zu Hause beten — oder wie sie mit ihrem Glauben in ihrem Umfeld oft beinahe die Einzigen sind. Einmal sagt eine, sie könne jetzt noch nicht genau benennen, was Gott für sie ist; vielleicht sei Gott eine Haltung. Eine andere erzählt, dieses Weihnachten sei für sie besonders gewesen, weil sie das erste Mal verstanden habe, was da passiert. Wieder eine andere fragt, wie sie ihren Glauben ihren Mitschülern mitgeben könne.

Vor dem Austausch singen sie Lobpreis. Hier stehen sie im Halbkreis in Franziskus’ Küche. Sie singen in Richtung Kreuz, das auf dem Klavier steht.

Alle Mädchen und Jungen sind nicht älter als 17 — und stellen solche Fragen. Und die sind ihnen so wichtig, dass sie hierher kommen. Das finde ich krass. Und ich freue mich für sie, dass sie hier den Raum haben, um darüber sprechen zu können. Ehrlich gesagt erinnert mich die Stimmung in diesem Gebetskreis ziemlich an den feministischen Lesekreis, den Freundinnen und ich vor wenigen Monaten gegründet haben. Als wir uns das erste Mal trafen, sprachen wir alle einfach drauf los, super schnell, es gibt viel zu sagen, jede etwas anderes, aber im geschützten Raum, weil wir wussten, der gleiche Kern ist uns wichtig. Und hier ist es auch so. Die Stimmung ist gelöst.

Und als ich da zwischen den Jugendlichen sitze, freue ich mich für Franziskus, dem so wichtig ist, seine Erkenntnis weiterzugeben — und der damit hier auf Resonanz gestoßen ist. Das hätte ich nicht unbedingt erwartet. Jetzt hat er diesen Raum geschaffen, in dem die Erkenntnis geteilt und geschützt wird.

Auf ewig Hardcore

Der Priester und ich — mittlerweile ist es komisch, ihn „Priester“ zu nennen — haben jetzt noch zwei Monate miteinander. Das große Ereignis, das Franziskus und mir noch bevorsteht, ist Ostern. Darauf bin ich gespannt, Franziskus machte mir jetzt schon klar, wie wichtig ihm ist, dass ich die ganze Dramaturgie auch mitbekomme und verstehe. Katholisch aufgewachsene Freunde von mir meinten, Ostern sei „Hardcore“. Ich war Weihnachten in drei Messen und war, ich gestehe, sehr gerührt. Jetzt eben Ostern, auf ewig Hardcore.

Auch solche Bilder gehören zu einem Rückblick — Hardcore auf Pilgerreise beim Weltjugendtag

Danach wird Franziskus den Blog lesen — wird lesen, was ich in den vergangenen Monaten über ihn, mich, uns geschrieben habe. Bisher hat er noch nicht ein einziges Mal irgendetwas von mir gelesen, auch keine anderen Artikel, ganz bewusst. Es kommt mir jetzt schon vor, als würde er dann mein Tagebuch lesen — mein allen Anderen zugängliches Tagebuch. Auch das hier wird er lesen. Also was bleibt zu sagen, außer: liebe Grüße!

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